Bienenmythen und Bienenmärchen
Hinterlasse einen Kommentar13. Juni 2019 von Marzellus

Bienengöttin – Goldplakette aus den 7. Jhd v. Chr. (Rhodos)
In einer Zeit, die eher den materiellen und wirtschaftlichen Wert der Dinge betont, sind es die substantiellen Erzeugnisse Honig und Wachs und die „Dienstleistung Nutzpflanzenbestäubung“, die uns an den Bienen am meisten interessieren. Außer Kerzenschein und Honigbrötchen verdanken wir den Insekten jedoch auch einen üppigen kulturellen Schatz. Fast jede Kultur überlieferte eine tiefe Verehrung der Menschen für Bienen, zum Beispiel die der alten Griechen.
Zeus wäre ohne die Honigbienen vermutlich verhungert. Seine Mutter Rhea versteckte den Titanensprössling vor seinem Vater Kronos, der seine Kinder zu verspeisen pflegte, in einer Höhle auf dem kretischen Berg Ida. Dort ernährten ihn die darin wohnenden mitleidigen Bienen. Eine andere Variante dieser Sage ist nicht ganz so märchenhaft aber bestätigt ebenfalls, dass Honig die Babynahrung des Olympiers war. Demnach stand der neugeborene Zeus unter dem Schutz des kretischen Königs Melisseos und seiner Töchter Amanthea und Melissa. Die beiden Prinzessinnen heißen wörtlich übersetzt „die Ziege“ und „die Biene“. In der Vorstellung der alten Hellenen waren die Schwesten Nymphen, die Naturkräfte verkörperten.
Kronos verwandelte Melissa zur Strafe für ihre Hilfeleistung in einen Wurm, doch als Zeus seinen Vater entmachtet hatte, gab er seiner Retterin aus Dankbarkeit die Gestalt einer Biene.
Den Genuss von Honig wollte Zeus sein Leben lang nicht missen. Neben Ambrosia, der unsterblich machenden Speise der Götter, war Nektar bekanntlich das Lieblingstränk der Olympier. Beide Lebensmittel verweisen auf das Bienenerzeugnis Honig. Der antike griechische Dichter Ibykos bezeichnet die sagenumwobene Götterspeise Ambrosia als „neun mal süßer als Honig“. Möglicherweise verleiht also ein Honigkonzentrat den olympischen Konsumenten die Unsterblichkeit.
Melisseos, der Vater der beiden Ammen des Zeus, heißt wörtlich übersetzt „Mann der Bienen“. Er war der erste Imker in der griechischen Mythologie, und sein Rang war der eines „Dämons“. Für die alten Griechen bedeutete das soviel wie „Naturgeist“ oder „Schutzgeist“. Die heutige negative Konnotation des Wortes stammt aus der Zeit der frühchristlichen Verteufelung der Vielgötterei.
Der Nymphe Melissa verdanken wir Menschen der Sage nach ein Getränk aus Honig und Wasser, das Männer kultivierte und friedlich machte. Melissa soll die Menschen auch vom Kannibalismus befreit haben, indem sie ihnen den süßen Honig des Waldes als Alternativkost zugänglich gemacht hat.
Ein eher indirektes Geschenk der Bienengöttin ist die Entwicklung der Imkerei. Aristaeus, der griechische Gott der Landbevölkerung, wurde von Melissa in der Bienenhaltung unterwiesen und hat seine Kenntnisse dann an die Bauern weitergegeben.

Bienen von Malia – CC-Lizenz gemeinfrei. In der minoischen Kultur auf Kreta, der frühesten Hochkultur Europas, aus der sich die hellenistische Kultur entwickelte, hatte die Biene eine zentrale Bedeutung. Zahlreiche bei Ausgrabungen gefundene Artefakte belegen das. Zu den schönsten Fundstücken gehören die Bienen von Malia. Das Schmuckstück wurde zwischen 1800 und 1700 v. Chr. hergestellt
Die jungfräulichen Priesterinnen der Göttinnen Artemis, Demeter und Aphrodite hießen Melissae, was wörtlich „die Bienen“ bedeutet. Die Hohe Priesterin des Orakels von Delphi wurde „Delphische Biene“ genannt. Diese Tempeldienerinnen besaßen prophetische Gaben. Man nimmt an, dass ihre Weissagekraft von halluzinogenem Honig verursacht war, der entsteht, wenn Bienen zu viel vom Nektar des Pontischen Rhododendron eingetragen haben.
In den Jenseitskonzepten der antiken Griechen nimmt die Biene eine Schlüsselstellung ein. Neben der von Homer inspirierten Vorstellung, dass Bösewichter nach ihrem Ableben auf ewig in den Tartaros verbannt werden, während die guten Seelen für immer in Elysium, der Insel der Glückseligkeit, verweilen dürfen, gab es die Idee der Reinkarnation der Seele.
Noch im dritten Jahrhundert nach Christus erzählt der Philosoph Porphyrios, dass die Göttin Demeter die von ihr erschaffenen seelenlosen irdischen Körper mit der Hilfe von Bienen animiert. Die Bienen als Mittlerinnen zwischen dem Göttlichen und Irdischen steigen in der Vorstellung des Griechen nach dem Tod eines von ihnen beseelten Wesens in den Olymp auf, um später neuen Schöpfungen dann wieder als Lebensgeist zu dienen.
In der 700 Jahre älteren Reinkarnationslehre Platons finden die Bienen ebenfalls Erwähnung. Für den Lieblingsschüler des Sokrates steht der Philosoph, der nach Einsicht und Vollkommenheit strebt, auf der höchsten körperlichen Inkarnationsstufe. Nur er darf auf Erlösung vom körperlichen Dasein hoffen.
Menschen mit rein körperlichen Begierden wie zum Beispiel der Säufer oder der Schlemmer werden als Esel wiedergeboren, Kriminelle aller Art als Wölfe, Falken oder Geier. Tugendhafte Personen ohne ein Faible für die Philosophie werden dagegen im nächsten Leben zu Bienen. Ob das jetzt ein Abstieg oder ein Aufstieg auf der Reinkanationsleiter ist, lässt Platon offen. Wenn man allerdings bedenkt, dass Frauen nach Überzeugung des Philosophen die körperliche Wiedergeburt feiger oder unredlicher Männer sind, siedelt Platon die Biene offensichtlich auf einer höheren Stufe an als die weibliche Hälfte der Menschheit.
Wie Platon zu einer solchen Wertung gekommen ist, lässt sich aus heutiger Sicht nicht mehr klären. Aber lassen wir trotz soviel offenkundiger Frauenfeindlichkeit Milde walten: „de mortuis nihil nisi bene – sage nichts Schlechtes über die Toten.“
Fotonachweis:
Bienen von Malia Von Wolfgang Sauber – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6508487